JOACHIM SEYFERTH VERLAG
Angebote und Informationen zu Eisenbahn, Reisekultur und Verkehrspolitik

Aartalbahn

Dornröschenbahn?

Bei der 54 Kilometer langen Aartalbahn zwischen Wiesbaden und Diez liegt die Vernunft zur Verkehrswende im Dornröschenschlaf. Eingeschlummert nach ihrer Stilllegung in zwei Phasen (1983 und 1986) einschließlich kurzzeitiger Auferweckung als Touristik- und Draisinenbahn sowie anschließenden erneuten Albträumen ihrer teilweisen Zerstörung oder gar endgültigem Abriss, befindet sich über ihr bereits eine dicke Decke aus Gras, Moos, Buschwerk, Rost und jungen Bäumen. Die gesamte Strecke und ihre Anlagen stellen eine seit Jahrzehnten sträflich vernachlässigte Schienen-Infrastruktur zwischen Stilllegung, jahrzehntelangen Lippenbekenntnissen für eine Reaktivierung und drohendem Vergessen dar. Dabei werden die Schienen der Aartalbahn für die vielpropagierte Verkehrswende dringend benötigt, ihre damalige Stilllegung war ein großer Fehler.

Nachfolgend der Begleittext "Ende oder Wende?" zur kürzlich erschienenen Foto-DVD "Dornröschenbahn" (siehe auch  Foto-DVDs), der aufzeigt, dass eine stillgelegte Eisenbahnstrecke eigentlich nicht für das Anfertigen von Bildern im Sinne des fotografischen Genres "Lost Places" bestimmt ist. Zu hoffen bleibt also, dass die Ansichten auf der oben genannten Foto-DVD nur eine verkehrspolitisch kurzsichtige Episode dokumentieren und die Aartalbahn wieder einer guten Zukunft entgegenfährt.

Ein Bürgerentscheid am 1. November 2020 zur so genannten "City-Bahn" wurde von den Wiesbadener Bürgern jedenfalls negativ entschieden, knapp zwei Drittel (62,1 Prozent) stimmten gegen das meterspurige Straßenbahn-Projekt, das in einer zweiten Ausbaustufe bis Bad Schwalbach verlängert werden sollte. "Die City-Bahn ist tot, es lebe die Aartalbahn!" - so könnte oder muss jetzt das Motto zur dringend erforderlichen Reaktivierung der Aartalbahn lauten. Hierzu wurden vom Joachim Seyferth Verlag die beiden zwar bereits 1982 und 1986 erschienenen, aber in weiten Teilen nach wie vor gültigen Weißbücher "Aartalbahn als leistungsfähige Vorortbahn" der damaligen "Interessengemeinschaft S-Bahn Wiesbaden - Bad Schwalbach" als PDF neu aufgelegt (siehe oben), ebenso als PDF wird eine konzeptionelle Denkschrift zur Aartalbahn als politische Diskussions- und Handlungsgrundlage erscheinen. Vier Jahrzehnte Stilllegung und Siechtum eines zukunftsträchtigen und leistungsfähigen Verkehrsträgers inmitten des Ballungsraumes Rhein/Main und inmitten einer verbal propagierten Verkehrswende sind Skandal genug - es muss etwas geschehen!

 

 


Ende oder Wende?

Von Joachim Seyferth


Zwischen Wiesbaden am Rhein und Diez an der Lahn ist ein vierundfünfzig Kilometer langer Schatz in den Taunus eingebettet. Eine Eisenbahnstrecke im Dornröschen-Schlaf, eingeschlummert in zwei Phasen jeweils ab dem 25. September 1983 und dem 29. September 1986 einschließlich kurzzeitiger Auferweckung als Touristik- und Draisinenbahn sowie anschließenden erneuten Albträumen ihrer teilweisen Zerstörung oder gar endgültigem Abriss. Sie schläft immer noch, jetzt schon über ein Drittel eines Jahrhunderts lang, über ihr bereits eine dicke Decke aus Gras, Moos, Buschwerk, Rost und jungen Bäumen. In Wiesbaden negiert, im Taunus fast unsichtbar und an der Lahn vergessen ruht sie immer weiter, Tag für Tag, von Jahr zu Jahr, Schwelle für Schwelle.

Angeblich soll sie Hessens längstes Denkmal sein und ist doch im Schlaf ihres erhaltungswürdigen Schmuckes in Gestalt treuer Telegrafendrähte und -stangen beraubt worden. Ihre einst pittoresken Accessoires wie etwa Fernsprechhäuschen, Weichenlaternen oder Kilometersteine wurden von Vandalen heimgesucht und geschändet. Mal Denken ist ihr also nicht zuteil geworden, nur wenige betreten ihr Schwellenband ganz vorsichtig mit Füßen und flüstern ihr noch Begriffe wie „Goldgrube“ oder „Volksvermögen“ zu, sehen in ihr gar einen Schlüssel zum aktuellen Lippenbekenntnis „Verkehrswende“.

Es war nicht richtig, die Aartalbahn zu Bett zu schicken. Sie ruht und das Band der Straßen droht zu zerreißen. Eine pulsierende Region zwischen Rhein-Main und Rheingau-Taunus leistet sich in schizophrener Dualität aus Luxus und Frevel, den seit jeher zukunftsträchtigsten Verkehrsträger ins Koma zu schicken und bevorzugt den täglichen Verkehrsinfarkt. Einige engagierte Eisenbahner und Freunde verfassten bereits vor ihrem Dornröschenschlaf ein Weißbuch mit dem Titel „Aartalbahn als leistungsfähige Vorortbahn“, ja gar eine S-Bahn zwischen Wiesbaden und Bad Schwalbach wurde angedacht. Längst hätte man zumindest diesen Streckenabschnitt aufwecken müssen – Pendler, Ausflügler, Kurgäste, Gewerbe und Gastronomie und unser aller Natur hätten es goutiert.

Statt dessen ist ein vierundfünfzig Kilometer langes Band zwischen Rhein und Lahn zu einem nun bereits scheinbar ewigen Mitglied allmählich vergessener Industriekultur geworden, das als nicht beachteter Teil der Landschaft dahinvegetiert und von wuchernder Flora und nagendem Wetter allmählich zermürbt, entstellt und eines Tages vollständig in den Kreislauf der Natur integriert sein wird. Für ihre Freunde und Befürworter ist die Dornröschenbahn ein trauriger Anblick, für andere nur ein jahrzehntelanger Schandfleck, der leider noch nicht für weitere Straßenbauten, hippe Radwege oder profitable Bodenspekulationen für Wohnen und Konsum vereinnahmt werden konnte.

Noch klingeln sich zwischen Wiesbaden-Dotzheim und Chausseehaus und weiter hoch zur Eisernen Hand nicht die Freizeitradler auf nun bequemer und asphaltierter ehemaliger Bahntrasse durch die Gegend, noch steht kein weiterer neuer Konsumtempel mit billigen Werbefahnen und breiten SUV-Parkplätzen auf dem Gelände des ehemaligen Bahnhofs in Hahn-Wehen, noch gibt es in Bad Schwalbach keine Industriehalle oder keine Reihenhaus-Ghettos, wo einst der Verkehrsträger Schiene Menschen und Güter trug. Noch ist die Aartalbahn in ihrem tiefen Schlaf nicht zerstückelt, vergraben und vergessen worden, noch bewegt sie zumindest die Gemüter.

Ihr Anblick kommt jenen verlorenen Orten gleich, die man im Fotografen-Deutsch „Lost Places“ nennt, also jenen morbiden Stätten von Industrie und Architektur, die man aufgegeben und den Zeitläuften überlassen hat. So genannte „Industrie-Archäologen“, darunter insbesondere Fotografen, mitunter auch Maler oder Zeichner, erkennen in dem Konglomerat aus zerfallender Technikgeschichte und Vereinnahmung durch die Natur eine meist faszinierende, manchmal verstörende, aber immer vorhandene Wechselwirkung, die in ihren Augen etwa zu gehobener Dokumentation, latenter Anklage oder gar Kunst geraten kann. Manche bezeichnen diese Stätten auch als „Dritte Landschaft“ – eine Fusion aus den Überbleibseln technischer Zivilisation und urwüchsiger Natur, ein Mittelding aus einstigem Industriegelände und Kulturlandschaft.

Und so füllen die Ablichtungen stillgelegter Fabriken, versteckt-vergessener Bunkeranlagen, von Technikfriedhöfen mit ausrangierten Flugzeug- oder U-Boot-Laibern, von aufgelassenen Zechen und Stahlwerken, verlassenen Villen und Schlössern oder zerfallenden Bahnhöfen und Lokomotivschuppen ganze Bildbände, Magazine und Blogs des „Lost Places“-Genres, die vordergründige Motivation der Urheber heißt in erster Linie Motiv. Im unausgesprochenen tieferen Wesenskern kommen noch Abenteuerlust, Kindheitsträume, ein bisschen Grusel, ein wenig Archäologie, ein Quäntchen Trieb für Verbotszonen, ein Stück Freiheitsdrang und eine hervorquellende Ader zum Forscher und Entdecker hinzu. Nostalgie, Retro oder Vintage unterstützen dies Unterfangen und führen zur trendigen Rehabilitation derlei vermeintlichen Sonderlinge.

Die Dornröschenbahn erfüllt all diese Kriterien vollumfänglich: überwucherte und von jungen Bäumen beschlagnahmte Gleise, allerorten Rost und Patina, bröckelnder Putz und verblasste Farben, jede noch so kleine Fläche von einer orientierungslosen Szene mit „Tags“ und „Pieces“ verunstaltet, ergo von jenen Menschen, die gleich Hunden allerdings nicht ihr Beinchen, sondern ihr Ärmchen heben, um mittels ungelenken Sprayfarben ihre Existenz und ihr Revier zu markieren. Schnecken- und Moosbefall von Schotter und Schienen, tropfendes Bergwasser in dunklen Tunnelröhren, verrammelte Bahnhofstüren und eingeworfenes Fensterglas, jedweder Kleinmüll vom Kronkorken bis zum zerbeulten Grill auf der gesamten Trasse verteilt, von unsichtbaren Obdachlosen versteckt angelegte Behausungs-Provisorien einschließlich erbarmungswürdiger Habseligkeiten, abgetrennte Gleise und zerstörte Weichen, Stümpfe von abgesägten Telegrafenmasten und sich dem Alter beugende Kilometersteine, von Kleingärtnern okkupierte Fragmente der Bahnanlagen, vergessene Waggons, halbierte Brücken. Auf der vierundfünfzig Kilometer langen Streckenwanderung fast überall Dschungel – mal nahezu undurchdringlich aus Flora, mal nahezu unansehnlich aus Unrat und mal nahezu unfassbar aus Empfindungen:

Die ruhende Aartalbahn ist doch kein verlorener Ort wie eine stillgelegte Steinkohlenzeche oder ein zugeschütteter Weltkriegsbunker, sie gehört eigentlich nicht in das Genre der „Lost Places“, nicht in die zugegebenermaßen breite Nische vom Industriekultur-Nostalgiker bis zum Denkmalpfleger, ja ihr Schlaf ist schon gar nicht für die visuelle Leichenfledderei der Photographen inszeniert, kein Schauplatz für im Grunde depressive und morbide Impressionen, kein Objekt für eine wie auch immer empfundene Ästhetik des Stillstands. Ihr vierundfünfzig Kilometer langes Gleisbett sollte auch nicht zur Mülldeponie verkommen, gleichwohl der das Auge beleidigende Tand gar eine stoffliche Metapher für all das wirre Gerümpel sein könnte, das die Dornröschenbahn in ihren Albträumen plagt.

Die ruhende Aartalbahn ist bei vernunftorientierter Betrachtung von einem Dschungel aus Irrtümern umgeben, die sich im Laufe der Jahrzehnte aus Negativ-Begriffen wie etwa Nebenbahn, Defizit und Stilllegung etabliert haben. In Wirklichkeit ist die Aartalbahn mit ihrem genialen Rad-Schiene-System die rationalste Antwort gerade auf aktuelle und drängende Zukunftsfragen, ja gar eine Goldgrube, die man wie in einer Urfassung des Dornröschen-Märchens nur in Gestalt des Frosches küssen muss, um etwas Nobles zu gewinnen. Spurbus, Magnetbahn, Rohrpost – all diese spurgeführten Alternativen zur Schiene stellen dagegen nur hochgejazzte vermeintliche Innovationen dar und können dem System Schiene sowohl bei Ästhetik als auch bei Effizienz bei weitem nicht das Wasser reichen.

Überall dort, wo neue Schienenwege errichtet oder alte reaktiviert werden, entwickeln sie sich insbesondere im Einzugsbereich von Ballungszentren zu Erfolgsmodellen und drohen wegen starker Inanspruchnahme und folglichen Kapazitätsengpässen sogar wieder an Attraktivität zu verlieren. Wo hier der teils unerwartete Zuspruch zu neuen Problemlösungen hinsichtlich langfristiger Akzeptanz führen muss, liegen andernorts auch in Form der Aartalbahn ganze Verkehrswege brach, die aus nahezu unerklärlichen Gründen nicht genutzt werden. Wo im Frankfurter Kern des Ballungsgebietes Rhein-Main das System Schiene in (nicht immer) befriedigendem Maße ausgebaut und im Gespräch ist, so ist die benachbarte Landeshauptstadt Wiesbaden in dieser Hinsicht verkehrspolitisches Entwicklungsgebiet. Mit früher Abschaffung der Straßenbahn, Stilllegung der Aartalbahn und weitgehendem Verlust der Fernzüge im Hauptbahnhof seit nun rund einem halben Jahrhundert eher schienenfern, wenn nicht gar schienenfeindlich eingestellt, beließ man die Strecke entlang Wiesbadener Vororte und weiter in die prosperierende Stadt Taunusstein sowie in die Kurstadt Bad Schwalbach desinteressiert in ihrem Dornröschenschlaf, ein zur Jahrtausendwende projektiertes Stadtbahn-Vorhaben wurde von „liberalen“ Kreisen der Politik sowie Wutbürgern erfolgreich vereitelt. Auch eine angedachte Wiederbelebung der Strecke im rheinland-pfälzischen Abschnitt zwischen Diez und Hahnstätten ist wieder eingeschlafen, längst hätten hier wieder Züge rollen sollen. Es muss wohl wieder nur so ein Traum gewesen sein.

Nun sollte eine "City-Bahn" mit schmalspurigem Straßenbahn-Standard zwischen Mainz und Bad Schwalbach via Wiesbadener Innenstadt die Aartalbahn erwecken. Keine abzulehnende Option, doch die Protestplakate in Wiesbaden zeigten erneut Wirkung. Die ruhiggestellte Nassauische Touristikbahn mit ihrem in Wiesbaden-Dotzheim stationierten Museums-Fuhrpark sieht ihre Felle ohnehin davonschwimmen, gleichwohl ihre Zukunft bevorzugt im mittleren Abschnitt der Dornröschenbahn zwischen Bad Schwalbach und Hohenstein bzw. Michelbach liegen könnte, weil die Aartalbahn im engen und tunnelreichen Tal dort gleichzeitig am schönsten ist und das geringste „normale“ Verkehrspotenzial besitzt. Ein weiteres Traumgebilde der schlummernden Bahn stellt sich einen dennoch durchgehenden Vollbahnbetrieb mit wiederum attraktiven und "normalen" Zügen vor, die nicht nur zum Wiesbadener Hauptbahnhof, sondern ebenso direkt via Wiesbaden Ost nach Mainz und/oder Frankfurt fahren, um den zahlreichen Pendlern zu gefallen. So wie bei der Rheingaubahn, die seit neuestem wieder Ähnliches ab/bis Wiesbaden-Biebrich praktiziert. Man wird ja noch mal Visionen haben dürfen, auch wenn dies ein beliebter ehemaliger Kanzler für sich ausgeschlossen hatte.

Das vierundfünfzig Kilometer lange Band zwischen Rhein und Lahn steckt voller Zu(g)kunft und gehörte nie in die Kategorie der verlorenen Orte. Die Option Ende oder Wende ist eindeutig und einseitig zu beantworten, alles andere wäre nicht nur vernichtend für ein Stück Volksvermögen, sondern im Sinne einer notwendigen natur- und damit auch menschverträglichen Daseinsvorsorge auch suizidal. Die Dornröschenbahn erinnert uns an einen Weckruf, erste Weichen hierzu sind gestellt, doch noch lauern bornierte Prellböcke und Sterbehelfer an ihrem Bett. Damit aus dem jahrzehntelangen Schlaf nur eine vergangene Episode einer wachen Zukunft wird, damit aus der dritten Landschaft wieder erste Wirklichkeit wird, damit aus der Aartalbahn wieder ein Rückgrat vernünftiger Mobilität wird und sogar Photographen statt selbst- und sinnlosen Stillleben wieder lebendige Dynamik und Motive voller Motivation vorfinden, muss wohl noch so mancher irrealer Albtraum überwunden werden. In der Realität ist es jedenfalls gänzlich unverständlich, unglaublich und unfassbar, dass ausgerechnet hier seit Jahrzehnten der beste und vernünftigste Verkehrsträger, den wir haben, brach liegt.

Die Aartalbahn schläft. Aufwachen müssen wir.

 

P. S.:   Der Glaube, nun auch noch andere Gestirne okkupieren und ausbeuten zu können, ist eine gefährliche Denkfalle (beispielsweise sollte die minder reife Menschheit erst einmal lernen, ihren rund um den ohnehin vermüllten Globus dicht verteilten Weltraumschrott zu beseitigen). Das Engagement für eine Verkehrs- und Reisekultur auf Schienen entspringt in erster Linie der Motivation, das Leben und seine Poesie auf diesem Juwel zu bewahren:
 

 

 

 

Wiesbadener Stadtbahn-Blues:

Dieser Artikel erschien bereits 2001 in der Zeitschrift SCHIENE, ist jedoch angesichts der augenblicklichen Lage zur Aartalbahn wieder sehr aktuell. Er beschreibt die lokalen und politischen Hintergründe, die bereits vor rund zwei Jahrzehnten zur Verhinderung einer Stadtbahn auf einem Großteil der Aartalbahn-Trasse geführt haben.

Grundsätzlich ist das Land Hessen im Gegensatz zu vielen anderen Bundesländern (z. B. dem benachbarten Rheinland-Pfalz) bei seinen Schienenwegen nicht ausgesprochen wohlwollend und innovativ. Und die Landeshauptstadt Wiesbaden ist traditionell sogar ziemlich schienenfeindlich: Schon sehr früh verschwand die Straßenbahn aus dem Stadtbild, entgegen des Nahverkehrs ist der Fernverkehr des Hauptbahnhofs auf ein Mindestmaß gesunken, die Aartalbahn wurde stillgelegt und zahlreiche Potenziale zur Optimierung des Schienenverkehrs rund um Wiesbaden werden nicht genutzt.  Wiesbaden ist also eine ganz besondere Stadt. 2001 haben Einwohner und Lokalpolitiker das segensreiche Projekt einer Stadtbahn erfolgreich boykottiert. In der Stadt der Pensionärswitwen, provinzieller Selbstgefälligkeit und Rathaus-Dilettanten war die Innovation einer Stadtbahn nicht gefragt - und mit einer gehörigen Portion aus Lügen, Populismus und Desinformation haben bornierte und hinterfotzige Rückwärtsfahrer - allen voran eine seltsame FDP - erreicht, dass die Wiesbadener nach wie vor ausschließlich mit der popeligsten Form des ÖPNV vorlieb nehmen müssen: dem Bus. Doch dieses Verkehrsmittel stößt in dieser weiter wachsenden Stadt schon lange an seine Grenzen.

Auch der jüngste Bürgerentscheid zu neuem Schienenverkehr in Wiesbaden, der so genannten "City-Bahn", wurde von der wählenden Bevölkerung am 1. November 2020 zu knapp zwei Dritteln negativ entschieden. Somit könnte der "Wiesbadener Stadtbahn Blues" ein zweites Mal geschrieben werden.

 

Stimmungsmache 2001

 

 

Wiesbadener Stadtbahn-Blues

Von Joachim Seyferth

 

„Straßen werden geteilt, Baumreihen fallen, ein Schotterbett kommt, dazu hässliche Masten und Oberleitungen, das Stadtbild wird zerrissen.“

„Straßen werden geteilt, Baumreihen fallen, ein Schotterbett kommt, dazu hässliche Masten und Oberleitungen, das Stadtbild wird zerrissen.“

 

„Das Monstrum Stadtbahn, ein unflexibles Gefährt durch unser Wiesbaden, wäre ein Rückfall in die Zeit der Dinos.“

„Das Monstrum Stadtbahn, ein unflexibles Gefährt durch unser Wiesbaden, wäre ein Rückfall in die Zeit der Dinos.“


„Wenn die Stadtbahn kommt, können wir die Stadt zumachen!“  

„Wenn die Stadtbahn kommt, können wir die Stadt zumachen!“


„Diese Stadt braucht keine Stadtbahn, die meine Stadt zerstört, die Bäume fallen lässt, Straßen enger werden lässt, dem Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer die Vorfahrt nimmt, die oberirdisch verläuft und die enorme Summen unserer Steuergelder verschlingt, die sich niemals rechnen wird, für die sich die meisten Politiker in wenigen Jahren nicht mehr verantwortlich fühlen werden und die die nächsten Generationen unverantwortlich belasten wird.“  

„Diese Stadt braucht keine Stadtbahn, die meine Stadt zerstört, die Bäume fallen lässt, Straßen enger werden lässt, dem Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer die Vorfahrt nimmt, die oberirdisch verläuft und die enorme Summen unserer Steuergelder verschlingt, die sich niemals rechnen wird, für die sich die meisten Politiker in wenigen Jahren nicht mehr verantwortlich fühlen werden und die die nächsten Generationen unverantwortlich belasten wird.“


„Nur mit der F.D.P. wird es keine Stadtbahn geben. Deshalb: Wählen Sie F.D.P., wenn Sie die Stadtbahn verhindern wollen.“  

„Nur mit der F.D.P, wird es keine Stadtbahn geben. Deshalb: Wählen Sie F.D.P., wenn Sie die Stadtbahn verhindern wollen.“


Das ist der Wiesbadener Stadtbahn-Blues. Ein Wesensmerkmal dieser einst von klagenden Sklaven kreierten Musik ist es, dass viele Textzeilen doppelt gesungen werden, damit man das, was man beim ersten Mal nicht verstanden hat, beim zweiten Mal versteht. So auch hier: Diese Aussagen zum Wiesbadener Stadtbahn-Projekt sind schier so verrückt und unglaublich, dass man sie wohl doppelt lesen muss, um vor allem Zeit zum Lachen oder zum Weinen zu gewinnen. Zur Erinnerung: Wir schreiben das Jahr 2001!

Doch Wiesbaden ist eben eine ganz besondere Stadt. Ängstlich hat man sich vor Urzeiten auf dem schützenden Plätzchen vor den Ausläufern des Taunus niedergelassen, auf der anderen Seite der große Strom, der wie ein riesiger Wassergraben gegen Gefahren und Unbill aus dem Süden abschottet. Das weltoffene Frankfurt war zu damaliger Zeit weit weg - selbst heute gehört die Schienenverbindung der „Taunusbahn“ von Wiesbaden nach Frankfurt zu einer der Agglomerations-Hauptstrecken mit den größten Zugpausen.

Dermaßen selbst von jeglicher Weltläufigkeit abgehängt, ist es kein Wunder, dass in Wiesbaden die Angst blieb. Die Furcht vor Veränderung, Erneuerung und Innovation manifestierte sich deshalb auch vor 129 Jahren im heftigen Widerstand gegen den Bau einer Pferdebahn: 1872 wehrte sich die Stadtverordnetenversammlung gegen dieses Ansinnen; die Mehrheit der Bürger sah die Stadt durch die Berliner Betreibergesellschaft „ruiniert“. 1875 wurde der Pferdeäpfel-ÖPNV dennoch eingeführt und kürzeste Zeit später brüsteten sich die Wiesbadener plötzlich damit, die bequemste und eleganteste Pferdebahn Deutschlands zu besitzen. Die modernste Stadtbahn 2005?

Die Stadtbahn anno 1889 hieß Dampfbahn und auch gegen sie gab es einen Sturm der Entrüstung. Leserbriefschreiber befürchteten durchgehende Pferde und abgeworfene Reiter, giftige Kohlendämpfe und Schwefeldünste, dazu ein massenhaftes Vogelsterben und den Ruin des Kurbetriebs. Doch die Dampfbahn kam. Ebenso die „Elektrische“, die vorher nicht minder als „Ungeheuer“ beschimpft wurde. Aber sie fuhr nur von 1896 bis 1955 und bereits 1929 wurde damit begonnen, sie sukzessive durch Buslinien zu ersetzen - kein gutes Omen für eine Stadtbahn anno 2005.

Aus heute wohl unerfindlichen Gründen wich die Skepsis und Angst der Wiesbadener dem Jubel über die ersten Omnibusse im Jahre 1929: „Noch ein Tag trennt uns von dem historischen Augenblick, wo Wiesbaden als erste deutsche Großstadt, ja vielleicht als einzigste Großstadt der Welt sich von dem elektrischen Straßenbahnbetrieb trennt und das modernste Verkehrsmittel, den Omnibus, einführt“, schrieb euphorisch die örtliche Presse. Und plötzlich wurden die Wiesbadener weltoffen und luden Journalisten aus aller Herren Länder dazu ein. Die Schienenstadt 2005 war weiter weg als je zuvor.

„Ich bin bestimmt nicht tolerant, aber alles hat seine Grenzen!“ Dieser verquere Leitspruch des Kabarettisten Gerd Dudenhöfer spukte wohl auch in den Wiesbadener Köpfen herum, als 1956 Gelenkbusse eingeführt wurden. Die waren nun auch wieder nicht recht, der Einstieg sei zu hoch, die Schlaufen zum Festhalten fehlten wie die Luft zum Atmen, selbst die alte Pferdebahn sei weit bequemer gewesen. Doppeldecker, in Berlin zum Markenzeichen avanciert, wurden erst recht abgelehnt. Dafür wurden 1968 - zuerst ebenfalls heftig umstritten - die Busspuren eingeführt. Eine Annäherung an das Prinzip Schiene?

Wir sehen schon - (öffentlicher) Verkehr und seine Ausgestaltung sowie Akzeptanz hat mehr mit Psychologie als mit nüchterner Ratio zu tun - vor 129 Jahren genauso wie heute. Denn würden Politik und Bürger eine wirklich rationale Verkehrspolitik betreiben und akzeptieren, sähe unser Verkehrswesen völlig anders aus - angefangen von der äußeren Erscheinungsform des Autos bis hin zur fiskalischen Regelung des Verursacherprinzips. Aber auch die öffentliche Diskussion um die Einführung der Wiesbadener Stadtbahn wird vor allem durch eines geprägt: Emotionen. Das erkannte schon im August 1997 auch der Geschäftsführer des Rhein-Main-Verkehrsverbundes (RMV), Volker Sparmann: Er vermutete, es müsse auch mit Gefühlen zu tun haben, dass die Wiesbadener es noch immer nicht geschafft hätten, über die Zukunft der Aartalbahn auf rationaler Basis definitiv zu befinden. Die aktuell gemalten Schreckensbilder von hoch aufgeschütteten Bahndämmen durch kurstädtische Flaniermeilen, von hundertfachem Baumtod und von klobigen Bahnen unter hässlichen Oberleitungen entbehren jeder vernünftigen Grundlage und sind dennoch so präsent: Abgekoppelt von der Sachlichkeit der Verkehrsplaner und den konstruktiven Visionen einiger (weniger) Politiker ist der Wiesbadener Bürgerschaft vor allem eines geblieben: die Angst.

Man hat Angst vor dem Verlust der gewohnten Bushaltestelle. Man fürchtet jahrelangen Baulärm und Umleitungen. Man ängstigt sich vor einer großen, lauten Eisenbahn inmitten der angeblich zu engen Straßen. Man hat Angst vor Erschütterungen, vor Abfall an neuen Haltestationen, vor höheren Fahrpreisen. Die Wiesbadener Stadtbahnfrage reduziert sich zugespitzt auf dieses irrationale Angst-Phänomen - dies muss man wissen, bevor man weiterliest. Und man muss wissen, dass der Wiesbadener Stadtpolitik in diesem Zusammenhang zwei schwere Vorwürfe zu machen sind: Sie hat es einerseits wirksam versäumt, den Bürgern diese diffusen und unbegründeten Ängste zu nehmen und sie hat andererseits - und das ist der eigentliche Skandal - diese Ängste geschürt und mit ihnen ihr schmutziges partei- und polittaktisches Spiel getrieben. In Wiesbaden gipfelte dies jüngst darin, dass man gegen die Schiene Wahlen gewinnen konnte - wenn das bundesweit Schule macht, dann gute Nacht!


ÖPNV MIT VOLKSBELUSTIGUNGSCHARAKTER

Und noch eines ist wichtig, um den Wiesbadener Stadtbahn-Blues auf den nächsten Seiten im Kern zu verstehen: Auch in der hessischen Landeshauptstadt ist die Akzeptanz gegenüber dem Schienenverkehr in den letzten Jahren immer mehr gesunken, weil er zunehmend aus dem Alltag der Bürger verschwunden ist. 1983 wurde die Aartalbahn zu den Taunusgemeinden im „Grünen" und nach Bad Schwalbach stillgelegt; der Wochenend-Museumsverkehr der „Nassauischen Touristik-Bahn" auf der denkmalgeschützten Trasse zwischen Wiesbaden-Dotzheim und Hohenstein befriedigt keine echten Verkehrsbedürfnisse, sondern hat in erster Linie Volksbelustigungscharakter – eine Rolle übrigens, in die die Eisenbahn zunehmend und in Besorgnis erregender Weise gedrängt wird. Und die Bedeutung und Aufgaben des Wiesbadener Hauptbahnhofes schwinden seit den Siebzigerjahren mehr und mehr - zuerst wurden die stündlichen IC-Halte ins benachbarte Mainz verlegt, sukzessive folgten die verblieben FD- und D-Zug-Leistungen bis auf ein heutiges Restangebot des Fernverkehrs in den Tagesrandstunden. Zwar hätte sich diese Entwicklung wegen der bekannten Nachteile eines Kopfbahnhofes nicht vollständig verhindern lassen (in Wirklichkeit besitzen diese - leider unterschätzt - auch viele Vorteile!), aber wahr ist auch, dass sich sowohl die damaligen Bahnhofsvorsteher (heute hießen sie wohl Bahnhofsmanager) als auch die Stadt viel zu wenig um den vehementen Erhalt und die Nutzung des damals vorhandenen Fahrplanangebots bemüht haben. Dieses Defizit im „Marketing" könnte sich übrigens in naher Zukunft wiederholen, wenn die Chancen und Potenziale des neuen ICE-Anschlusses durch die Schnellfahrstrecke Köln - Rhein/Main von DB, Stadt und Region erneut nicht erkannt und entsprechend gefördert werden - Skeptiker sehen den ICE 3 schon jetzt nach längstens zwei Jahren halbherziger Duldung auf einer Umgehungskurve an Wiesbaden vorbeirollen. Wenn man vergleichsweise sieht, mit welchem Elan und welchen flankierenden Maßnahmen die Montabaurer Stadtoberen versuchen, ihrem neuen ICE-Bahnhof zum Erfolg zu verhelfen, können durchaus Zweifel am „Schienen-Willen" der hessischen Landeshauptstadt aufkommen.

Da haben es einige andere vergleichbare Städte - und es werden immer mehr - viel besser: Sie besitzen die Stadtbahn, also die gute modernisierte Straßenbahn mit zusätzlichen Einsatzfeldern und innovativer Technik (z. B. Verknüpfung mit der Region, Fahren auf DB-Gleisen, Niederflur-Bauweise, Energierückspeisung), und können sich ihren ÖPNV ohne sie überhaupt nicht mehr vorstellen. Auch Wiesbadener Verkehrsexperten und Kommunalpolitiker sind nach Karlsruhe gepilgert, um das Vorzeige- und Erfolgsmodell zu er„fahren“. Sie hätten beispielsweise auch nach Saarbrücken, nach Kassel, nach Straßburg, nach Stockholm, nach Heilbronn, nach Melbourne, nach Köln und Bonn, nach Amsterdam, nach Hannover, nach Nantes, nach Houston (Texas), nach Jena oder nach Budapest fahren können. Und immer wieder hätten sie bei ihrer Rückkehr in die hessische Landeshauptstadt plötzlich gemerkt, wie optimal auch Wiesbaden für eine Stadtbahn geeignet wäre: Da ist - natürlich - der verdichtete Stadtkern mit vielen engen und überfüllten Bussen sowie dem so genannten „Individualverkehr“, die sich gegenseitig bis zum Stillstand behindern, und da sind aus allen Richtungen die starken Verkehrsströme aus dem Umland, die mangels gutem ÖPNV und wegen fehlender bzw. stillgelegter Schiene fast ausschließlich mit dem Auto durchgeführt werden. Allein die vernachlässigte „Rheingauschiene“ nach Rüdesheim und die im Dornröschenschlaf befindliche Aartalbahn nach Bad Schwalbach wären Potenzial genug für die Einführung einer Stadtbahn. Neue Gewerbegebiete, das Zusammenwachsen von Stadtteilen, die engere Verknüpfung mit dem Mainzer Schienennetz sowie künftige Entwicklungsgebiete in der westlichen Rhein-Main-Region sprechen weiterhin für ein innovatives Verkehrssystem, das das wachsende Verkehrsaufkommen und die neuen Verkehrsströme zumindest umweltverträglich und in ästhetisch-attraktiver Form bewältigt. Auch hier ist das Prinzip Schiene geeignet, dem zurzeit stressvollen und chaotischen Stadt- und Nahverkehr eine entspanntere Form der urbanen Mobilität entgegenzusetzen - Reisekultur ist kein Privileg des Fernverkehrs!


STADTBAHN MIT S-BAHN-BESETZUNG

Im Frühjahr 1997, nach der Wahl zum neuen Wiesbadener Stadtparlament, sollten also auch hier die Weichen für eine Stadtbahn gestellt werden. Das gewählte Rathaus-Duo aus SPD und Grünen strebte in seiner Koalitionsvereinbarung den Einstieg in ein modernes Stadtbahnsystem an und nannte als ersten Schritt die Wiederinbetriebnahme der Aartalbahn. Zur Bewertung wurde hierzu ein Gutachten in Auftrag gegeben; ein zweites paralleles Gutachten sollte zusätzlich die technische Machbarkeit von weiterführenden Stadtbahn-Trassen in die Innenstadt untersuchen. Bis auf die FDP sprangen nun alle Parteien auf den neuen Zug - es folgten die üblichen politischen Wadenbisse und Schuldzuweisungen, wer sich denn nun mehr für diese verkehrspolitische Wende engagiert.

Ein Jahr später stellten am 27. März 1998 die Auftraggeber der Aartalbahn-Gutachten - Rhein-Main-Verkehrsverbund, Stadtwerke Wiesbaden und Rheingau-Taunus-Verkehrsgesellschaft - in einer gemeinsamen Pressekonferenz die Ergebnisse der Gutachten vor. Die Wirtschaftlichkeit für eine Bahn von Bad Schwalbach über die Eiserne Hand und ab Kohlheck/Klarenthal mit einer neuen Linienführung durch die Innenstadt zum Hauptbahnhof liege im vorderen Mittelfeld der 54 Schienenstrecken im Gebiet des RMV. Die Ländchesbahn (Wiesbaden - Niedernhausen), die Odenwaldbahn (Frankfurt - Eberbach) und die Lahntalbahn (Koblenz - Gießen) seien weniger rentabel. Durchschnittlich seien 23.000 Fahrgäste am Tag in der Aartal- und Stadtbahn zu erwarten - das entspreche der S-Bahn-Besetzung bei der Einfahrt in den Frankfurter Hauptbahnhof. Der volkswirtschaftliche Nutzen der Bahn übersteige die Kosten um den Faktor 1,24. Spätestens im Jahr 2005 könne die Stadtbahn den Betrieb aufnehmen.

Nach dieser ersten Bewertung kam die Zeit der politischen Entscheidung. Wiesbadens Umweltdezernentin Christiane Hinninger (Grüne), die sich von Anfang an für eine Stadtbahn stark machte, meinte, die Reaktivierung der Aartalbahn und die Neuverlegung von Schienen in Wiesbaden seien „die wichtigste Entscheidung Wiesbadens zur Jahrtausendwende“. Die SPD, die man bekanntermaßen immer ein wenig zum Jagen tragen muss, hielt sich noch bedeckt und bildete ein „Offenes Forum Stadtbahn“, um die Bürger in die Entscheidungsfindung mit einzubeziehen - man müsse über einige Aspekte der bisherigen Planung noch diskutieren. Die CDU gar warb für einen baldigen Start des neuen Verkehrsmittels und lud zu ihrem „Rathausgespräch“ Anfang Mai 1998 keinen geringeren als Dieter Ludwig von den Karlsruher Verkehrsbetrieben ein, der mit seinen Erfolgsmeldungen die Partei zu überzeugen und zu bestätigen schien. Und im betroffenen Umland Wiesbadens, dem Rheingau-Taunus-Kreis, waren die meisten Parteien ohnehin einhellig für die Stadtbahn: „Es wäre kurzsichtig, dabei abseits zu stehen“, sagte Landrat Klaus Frietsch (SPD). Für Wolfgang Muno (CDU), Verkehrsdezernent des Rheingau-Taunus-Kreises, war die Aufnahme der Aartal- und Stadtbahn in den Nahverkehrsplan des Kreises „eine Selbstverständlichkeit“. Nur eine Partei schwieg bislang - in der Stadt wie in der Region.


BLINKENDE OBERLEITUNGEN UND GLÄSERNER ZUG

Nach dieser kurzen Phase der Euphorie setzte das ein, was - wiederum - Volker Sparmann vom RMV laut ahnend befürchtete: „Man darf das Projekt nicht zerreden.“ Seine Mahnung hatte keine Wirkung, denn jetzt begann die schweigende Mehrheit zu sprechen. Gleich die beiden ersten Leserbriefe zum Thema im „Wiesbadener Kurier“ vom 8.4.1998 belegten die Positionen Pro und Kontra: Gottfried Kleinert verwies auf das positive Stadtbahn-Pendant im benachbarten Frankfurt, Eva Ludwig störtee sich schon mal an „blinkenden Oberleitungen im Sonnenlicht“.

Auch so manche, die das Projekt zunächst verbal befürwortet hatten, bekamen plötzlich Angst - da ist sie wieder! - vor der eigenen Courage. Der frühere Oberbürgermeister von Wiesbaden, Achim Exner (SPD), beurteilte die Stadtbahn mit äußerster Skepsis und beschloss in seiner Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender der Wiesbadener Stadtwerke (ESWE), dass ESWE kein Geld für Realisierung und Betrieb der Bahn zur Verfügung stellt. Nach seinen Worten sei eine Stadtbahn sehr teuer, bringe aber dem öffentlichen Verkehr nicht allzuviele zusätzliche Fahrgäste (die anderslautenden Gutachten hatte er offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen). Er halte es für sinnvoller, Geld in eine schnelle Bahnverbindung nach Frankfurt zu investieren. Zur gleichen Zeit luden die SPD-Ortsvereine Klarenthal und Nordwest per Flugblatt (abgebildet war der Gläserne Zug!) zu der Bürgerveranstaltung „Stadtbahn in Wiesbaden und unserem Stadtteil?“ ein - man ahnte schon, was das Fragezeichen zu bedeuten hatte.

Nach wie vor positiv äußerten sich SPD, Grüne und CDU im Rheingau-Taunus-Kreis, auch der Rhein-Lahn-Kreis gesellte sich hinzu und befürwortete eine Wiederbelebung der Aartalbahn auch im nördlichen Abschnitt: „Alle vier sind dabei“, berichtete Landrat Kurt Schmidt (SPD) über die Haltung der politischen Kräfte im Rhein-Lahn-Kreis. CDU, SPD, FWG und Grüne seien für eine Reaktivierung der Eisenbahnstrecke von Bad Schwalbach bis Limburg. Voraussetzung seien aber entsprechende Beschlüsse des Rheingau-Taunus-Kreises und der Stadt Wiesbaden. Zwischenzeitlich besuchte die Wiesbadener SPD die Stadtbahn in Saarbrücken und die Stadtwerke Wiesbaden mussten sich im Wiesbadener Ortsteil Kohlheck (dort, wo die Stadtbahn die Trasse der Aartalbahn verlassen und in die Innenstadt abschwenken soll) bei einer Informationsveranstaltung den Unmut von Senioren anhören, die den drohenden Verlust eines Spazierwegs beklagten und monierten, bald rausche eine „lärmende Stadtbahn“ vor ihrer Tür.


PARTEIENSTREIT UND LESERBRIEFGESCHNATTER

Niemand hatte darauf gewartet, aber plötzlich meldete sich aus dem stadtbahnfreundlichen Rheingau-Taunus-Kreis Anfang Juni 1998 der schwerfällige Partei-Riese FDP aus dem Winterschlaf. Deren Fraktionsvorsitzender Michael Denzin ließ verlautbaren, auf ein „Abenteuer“ werde sich die FDP nicht einlassen. Erst seit knapp zwei Wochen liege ihr das Gutachten vor, die Partei sei noch „völlig offen“. Dieser Zustand währte nicht lange, denn schon kurze Zeit später flatterte den Wiesbadener Bürgern ein gelbes Flugblatt des „F.D.P.-Bezirksverbands Westhessen-Nassau“ ins Haus, das zu einer Diskussionsveranstaltung im Stadtteil Kohlheck/Klarenthal, also der Keimzelle des Stadtbahn-Widerstandes, einlud: „Die Stadtbahn: 225 Millionen DM für 800 Pendler. Eine sinnlose Verschwendung von Steuergeldern!?“ - man ahnte schon, was das Fragezeichen (und neu: das Ausrufezeichen!) zu bedeuten hatte.

Eine Partei strikt dafür, eine Partei strikt dagegen, die großen Volksparteien im Ja-Aber-Konsens, und dazwischen seitenlanges Leserbriefgeschnatter: Die Runde zur allseitigen Profilierung, Stimmungsmache und Volksmeinung war eröffnet. Bündnis 90/Die Grünen präsentierten mit ihrer achtseitigen Extra-Zeitung „Stadtbahn für Wiesbaden - Mit der Stadtbahn ins nächste Jahrtausend!“ ein versachlichendes Medium mit hohem Aufklärungs- und Informationsniveau, das nicht immer auf die Leserbriefe durchschlug: Ein kleines Stadtbahn-Depot wurde zum „Bahnhof“ gemonstert, erneut die Verschandelung der Innenstadt beschworen. Doch neben dem Kleingeist gab es auch weitsichtige Plädoyers: „Entsprechende Projekte haben in anderen Städten wie Karlsruhe, Saarbrücken oder Kassel Erfolge gezeigt, die niemand für möglich gehalten hätte. Der volkswirtschaftliche Nutzen des Vorhabens liegt eindeutig über seinen Kosten, was gutachterlich nachgewiesen und vom Land geprüft und bestätigt wurde. Worauf wartet Wiesbaden noch? Die Chancen für die Entwicklung von Stadt und ÖPNV, die sich mit der Option Stadtbahn gerade auftun, sind einfach zu schade, um zwischen Kleinmut und unseriösen Zahlenspielen zerrieben zu werden. Übrigens: Wiesbaden ist neben Kiel die einzige der 16 deutschen Landeshauptstädte ohne städtisches Schienenverkehrssystem. Wie lange wollen wir noch Schlusslicht spielen?“

Wenn es nun nach dem Willen der FDP in Wiesbaden und dem Umland ging, noch sehr, sehr lange - in der Tat wollte diese Partei von der Stadtbahn nur die Schlusslichter sehen. „Es sind Ihre Steuern - Gegen Steuerverschwendung - Gegen Stadtbahn - Zweitstimme F.D.P.“ hieß die Schlagzeile einer Hauswurfsendung, denn es kam die Zeit der Bundestagswahl 1998, zu der der Partei offensichtlich kein anderes Argument einfiel als die Anti-Stadtbahn-Kampagne: „Auch Ihre Zweitstimme für die F.D.P. am 27. September 1998 ist ein Signal gegen die Stadtbahn, denn die F.D.P. spricht sich als einzige demokratische Partei gegen die Stadtbahn aus“, bettelte der Bundestagskandidat Kai-Christofer Burghard. Unverständlich für die FDP-Politiker war, dass bislang keine Alternativen zur Stadtbahn durchgerechnet worden waren, beispielsweise eine Busspur oder ein Spurbus zwischen den Taunusgemeinden und Wiesbaden sowie weitere Busspuren in der Innenstadt. Wer nicht informiert ist, kann allerdings nur mit Nebelkerzen werfen, denn Alternativen wurden durchaus erwogen und geprüft - bei keiner war der Kosten/Nutzen-Effekt jedoch so günstig wie bei der Stadtbahn, deren positive Bilanz zwischen volkswirtschaftlichem Nutzen und Aufwand desto weiter erhöht wird, je mehr sie ausgebaut wird und damit von zunehmenden Synergieeffekten der Verkehre profitiert.

Zunehmende Skepsis kam nun auch von Teilen der Wiesbadener SPD, und das ausgerechnet nach einem Besuch der Stadtbahnen in Karlsruhe und Saarbrücken. Es habe wenig Sinn, zunächst die Strecke zwischen Bad Schwalbach und Wiesbaden als eine „Insellösung“ zu bauen und erst in einem weiteren Schritt in die übrige Region zu gehen. Von Anfang an müsse die Bahn über den Hauptbahnhof hinausgehen, den Wiesbadener Osten erschließen, auch in die Mainzer Innenstadt führen und eine Verbindung in Richtung Frankfurt haben. Die Forderung nach einer (vorerst) unerreichbaren Maximallösung, um das eigentliche ungeliebte Projekt doch noch zu verhindern? Der SPD-typische Eiertanz, um sich vor klaren Visionen und Entscheidungen zu drücken? Auch in Taunusstein, ein zwischen Bad Schwalbach und Wiesbaden gelegenes und potenziell sehr lukratives Einzugsgebiet für die Stadtbahn, erhob sich Bürgerprotest: Anlieger befürchteten ein neues „Emissionsband“ mit mehr Lärm durch ihre Stadt und bangten um den Wertverlust ihrer Häuser. Problemchen wurden aufgeblasen und verdeckten so die große Vision: Wo sollen die Park&Ride-Plätze angelegt werden, wie soll der veränderte Busverkehr organisiert werden, sind die Stadtbahn-Haltestellen an der richtigen Stelle?


WIRTSCHAFTSVERTRETER OHNE QUANTENSPRUNG

Obwohl sich also nun - im Sommer 1998 - die Gegnerschaft formiert hatte und die wie üblich explosionsartig wachsende Schar der Bedenkenträger ins Schlepptau nahm, hatte das Stadtbahn-Projekt immer noch die entscheidende politische Mehrheit hinter sich, so dass am 24. September der Grundsatzbeschluss der Stadtverordnetenversammlung Wiesbaden zur Einführung eines Stadtbahnsystems für Wiesbaden und die Region gefasst wurde. Eine Woche später folgte das politische Pendant des Kreistages des Rheingau-Taunus-Kreises sowie die Programmanmeldung der Strecke Bad Schwalbach - Wiesbaden beim Zuwendungsgeber Hessen. Das Land hatte erklärt, die Aartal- und Stadtbahn „auf jeden Fall“ zu fördern und stellte einen Investitionskostenzuschuss von 85 % in Aussicht, bezogen auf die 153 Millionen DM (ohne Fahrzeuge) der ersten Ausbaustufe. Dies machte den Stadtoberen die Entscheidung zur Stadtbahn wiederum ein wenig leichter, so dass am 11. Mal 1999 der definitive Beschluss der Stadtverordnetenversammlung der Landeshauptstadt Wiesbaden zur Einführung der ersten Stadtbahnlinie Bad Schwalbach - Wiesbaden - Mainz und zur Gründung einer Stadtbahngesellschaft bei den Stadtwerken gefällt wurde. Fristgerecht gab Wiesbaden am 31. Mai die Anträge auf Förderung des Baus der Stadtbahn beim Land Hessen ab. Das politische Vorsignal für die Stadtbahn stand nun - wenn auch noch rücknehmbar - auf „Fahrt erwarten“.

In die Stadtbahndiskussion kehrte nun, abgesehen von der mehr oder weniger erfreulichen Streitkultur in den ständigen Leserbriefen, ein wenig Ruhe und Gelassenheit ein. Ein kleines politisches Wunder passierte, als die CDU gar die heimische Wirtschaft - vertreten durch die FDP-nahe Industrie- und Handelskammer - kritisierte, die der Stadtbahnfrage nach wie vor mehrheitlich ablehnend gegenüberstand und ihre ewige und ideologiebelastete Leier von besseren Busverkehren, Busspuren und Spurbussen wiederholte, wohl wissend, dass davon nur das geliebte Straßenbaugewerbe profitieren konnte. Den Quantensprung einer Stadtbahn konnten (oder wollten) sich die in der Regel ohnehin vergleichsweise phantasielosen Wirtschaftsvertreter - zumal einer Generation und Klientel zugehörig, die nur mit dem Auto aufgewachsen und umgeben ist - einfach nicht vorstellen, ebenso wie viele Bürger, die nicht nur ihre Bedenken zum „Bahn-Lärm“, sondern nach wie vor zum Grundsätzlichen äußerten: „So ein Schwachsinn“, „Wozu brauchen wir eine Stadtbahn, wenn es die Stadt nicht einmal schafft, die Busse hier mehr als zwei Mal in der Stunde fahren zu lassen?“ Die Zeit für Aufklärung war überreif:

Im Herbst 1999 zeigten die Grünen im Rathausfoyer zwei Wochen lang einen fünfminütigen Stadtbahn-Film, der Wiesbadens neues Verkehrsmittel per Computeranimation durch die Straßen fahren ließ. Hinzu kamen Sequenzen von Stadtbahnen anderer Städte. „Keine Staus mehr, sicher und zuverlässig und mehr Lebensqualität“ sei die optimistische Botschaft des Films, so Klaus Bolte, grüner Stadtverordneter und Ausschussvorsitzender Planung, Bau- und Verkehr. Doch gerade die digitale Technik dieses „Aufklärungsfilms“, der den „Verkehr“ der anderen Art zeigte, erwies sich als Pferdefuß: Die Bilder seien geschönt, Fahrleitungsmasten fehlten und es werde nicht gezeigt, „wie die Bäume zu Krüppeln gestutzt“ werden müssten. Die Leserbriefe wurden wieder zahlreicher, auf der einen Seite diejenigen, die notorisch an der Stadtbahn zweifelten, auf der anderen Seite die, die am Status quo verzweifelten und mit den unbestritten vernünftigeren Argumenten verkehrspolitische Weitsicht zeigten. Fast schien es, als wollten sich die Einwohner Wiesbadens gegenseitig aufklären und belehren, die Bürgerbeteiligung kochte auf kleiner Flamme über das Medium der Tageszeitung.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass sich bei einer Umfrage des Amtes für Wahlen, Statistik und Stadtforschung im Herbst 1998 70 Prozent der Wiesbadener für die Einführung eines Stadtbahnsystems ausgesprochen hatten. Bei einer repräsentativen Umfrage des „Wiesbadener Kurier“ Anfang 2000 waren aus der Stadt dagegen nur noch 36 Prozent der Bürger für die Stadtbahn, 41 Prozent dagegen. Aus Taunusstein und Bad Schwalbach wollten hingegen 62 Prozent die Stadtbahn, 18 Prozent lehnten sie ab. „Für mich ist das ein deutlicher Hinweis darauf, dass wir über die Stadtbahn mit der Bevölkerung noch intensiver diskutieren müssen, um Informationsdefizite und Vorbehalte abzubauen“, meinte hierzu die Wiesbadener Umwelt- und Verkehrsdezernentin Christiane Hinninger (Grüne).

Genau dieses Thema und dieser Zeitpunkt waren die Knackpunkte für das spätere (vorläufige?) Aus für die Wiesbadener Stadtbahn. In dieser Phase der Information und Bürgerdiskussion - Ende 1999/Anfang 2000 - konnte die Gegnerschaft aus der Eigenart der Wiesbadener Bevölkerung Kapital schlagen und bereitete Meinungsmache, Manipulation und Machtkämpfe vor. Vor allem die FDP - mit 4,3 % bislang überhaupt nicht im Stadtparlament vertreten - fand ihre Nische, um ein latent kochendes Thema zu besetzen und populistisch für sich auszuschlachten:

Ihre Chance war das Informations-Vakuum, das entstand, nachdem die anderen Parteien nach dem geglückten Start der Stadtbahn-Planung das Projekt schon „in trockenen Tüchern“ sahen und daher die Information und vor allem die Motivation der Wiesbadener Bevölkerung vernachlässigten. Den Grünen allerdings sind in diesem Zusammenhang nur wenige Vorwürfe zu machen, sie haben sich mit Pressearbeit sowie Broschüren und Zeitungen zur Stadtbahn für jeden erkennbar „ins Zeug gelegt“ und sachlich wie emotional für die Verkehrswende in Wiesbaden plädiert. Leider hatte ihr Votum keine Breitenwirkung in der Wiesbadener Bevölkerung, die wie überall im Lande mehrheitlich SPD und CDU wählt und dem grünen Anliegen eher skeptisch gegenübersteht.

Wo aber blieb die Öffentlichkeitsarbeit der beiden großen „Volksparteien“ bei einer so wichtigen und weitreichenden Entscheidung für die Zukunft der Stadt? Auch und gerade ihre Aufgabe wäre es gewesen, nach ihrem Grundsatzbeschluss für die Stadtbahn die Bürger für dieses Zukunftsprojekt zu gewinnen und vor allem zu begeistern. Weniger als die Öko-Partei haben sie die Wiesbadener Bevölkerung aufgeklärt, sie motiviert, ihr eine Vision gegeben und bürgernah argumentiert. Statt dessen merkte man der SPD sehr deutlich Halbherzigkeiten, die bekannten Eiertänze und gewisse Rückzugsstrategien an, während man bei der CDU ahnte, dass ihr relativ uneingeschränktes Votum für die Stadtbahn auch darin begründet war, dass sie (noch) keine Regierungsverantwortung zu tragen hatte - die Bürger spürten, dass diese Parteien selbst noch nicht gänzlich von der Sache überzeugt waren. Dies gab ihren Bedenken Nahrung und wurde von populistischen Parteien gewissenlos ausgenutzt.

In sträflicher Weise wurde verkannt, dass die Überzeugungsarbeit pro Stadtbahn weniger mit sachlichen, harten Fakten, sondern mit emotionalen und „weichen“ Argumenten zu führen war; nüchterne Zahlen sind kein Nährboden für Aufbruchsstimmungen, Visionen und Kehrtwendungen, die Zustimmung auch für neue und ungewohnte Entscheidungen erzeugen - im Leben wie in der Politik. Den Bürger interessiert nicht im geringsten, ob der Nutzen-Kosten-Faktor nun 1,24 oder 1,53 ist, sondern er will wissen, wie oft die Stadtbahn fährt. Die Mutter interessiert sich nicht die Bohne für die Höhe der Fördermittel vom Land Hessen, sondern hegt immer noch das alte Vorurteil, dass bei einer neuen „Eisenbahn“ in Wiesbaden die Eingangsstufen für den Kinderwagen viel zu steil und mühsam seien - die Niederflurtechnik muss ihr mit Bequemlichkeitsargumenten „emotional“ beigebracht werden! Den Pendler interessiert der prognostizierte Verkehrsinfarkt überhaupt nicht (der ist ja wie der Herzinfarkt noch nicht da!), sondern er will wissen, wie lange er mit der Stadtbahn von der Haustür bis zur Bürotür im Vergleich zum Auto - und natürlich ohne Umsteigen! - benötigt. Die ältere Hausfrau ist nicht mit den Wirtschaftlichkeitsberechnungen unterschiedlicher Trassenvarianten aus dem Bus zu locken, sondern nur mit der Vorstellung, dass die Stadtbahn die gleichen Haltestellen anfährt, viel mehr Platz für die Einkaufstaschen hat und viel ruhiger fährt als der wankende Schaukelbus, wo sie sich immer schnell festhalten muss und nur mit Mühe einen Sitzplatz bekommt. Diese Stimmungen werden zu Abstimmungen - auch bei der nächsten Kommunalwahl ...


STADT OHNE VISIONEN

Die Vision, dass die Stadtbahn ein dringend benötigter Bestandteil der längst überfälligen Verkehrswende ist, wurde vertan. Die Vision, dass die Stadtbahn eine Idee und ein Produkt für unsere Kinder ist, die es einmal besser haben und vor allem besser machen sollen, wurde negiert. Die Vision, dass öffentlicher Nahverkehr auf der Schiene eine humanere, gehobenere Kultur des Dahingleitens, der Geräumigkeit, der Ruhe besitzt, wurde verschwiegen. Statt dessen wurde der öffentliche Diskurs einerseits vom zweifellos wichtigen Streit der Verkehrsexperten über die günstigste Detaillösung und andererseits von den parteitaktischen Sprechblasen der Kommunalpolitiker beherrscht. Die Losung 'Wir haben ein ehrgeiziges, lohnendes und fest vereinbartes Ziel, (fast) alles andere hat sich dem unterzuordnen' wurde nicht verkündet. Die Vorteile des Vorhabens wurden schwer verkäuflich unter der Ladentheke gehalten, Ängste im günstigsten Fall nur oberflächlich unterdrückt. So wurde das Projekt, wie einst von Volker Sparmann vom Rhein-Main-Verkehrsverbund befürchtet, Opfer einer der unnötigen Schwachstellen unserer Demokratie - es wurde tatsächlich zerredet.

Allerdings - und das ist nicht deutlich genug zu betonen - haben es Visionen in Wiesbaden ein wenig schwerer als in anderen deutschen Städten. Hier ist, gelinde ausgesprochen, die Mentalität der Bevölkerung nicht ganz so dynamisch-progressiv wie in manchen Universitätsstädten mit ihrem fortschrittlicheren Verkehrswesen (z. B. Erlangen, Münster). Die „Weltkurstadt“ und Sitz zahlreicher Behörden und Verwaltungen ist eher ein beschaulicher Tummelplatz für betuchte ältere Damen und gutsituierte Pensionäre, die jeden Tag mit dem Bus „ins Städtchen“ fahren und den Kaufhäusern ihr Altersruhegeld anvertrauen. Sehr böse Zungen behaupten sogar, die ersten beiden Ziffern der Postleitzahl Wiesbadens (65...) spiegelten den Altersdurchschnitt der Einwohner wider. Andere spotten respektlos, in Wiesbaden für eine Stadtbahn zu werben gleiche dem Versuch, die Insassen eines Altersheims für die Playstation zu begeistern. Die Minderheit der Jungen ist mit dem Auto aufgewachsen und kennt den Hauptbahnhof mehrheitlich nur als fetten Veranstaltungsort von gelegentlichen Techno- und Graffiti-Partys. Die Kurzformel `Die Alten wollen keine Stadtbahn und die Jungen interessiert sie nicht' ist in Wiesbaden durchaus angebracht - sie erklärt auch, warum die Diskussion und Initiative zur Stadtbahn hauptsächlich von den Generationen dazwischen beherrscht wird. Trost spenden einige wenige Optimisten, die stets betonen, dass sich steigende Lebenserwartung und Innovationsfreude nicht grundsätzlich ausschließen und dass wir ja alle alt, jedoch nicht zwangsläufig dümmer werden müssen. Danke!


HINTERTÜRCHEN UND KALTE FÜSSE

Für dumm verkauft wurde die Bevölkerung jetzt allerdings von der FDP. Sie kritisierte den neuen Wiesbadener Verkehrsentwicklungsplan und begann, sich als der einzige wirkliche Gegner der Stadtbahn zu profilieren. Außer dem „Phantom der Stadtbahn, die Grundlage der künftigen verkehrlichen Entwicklung sein soll“, seien nur „Schikanen für den Autoverkehr durch Rückbau von Fahrbahnflächen zugunsten des Radverkehrs, der Fußgänger und des ÖPNV vorgesehen“. Die Stadtbahn bringe, so der FDP-Politiker Wolfgang Schwarz, „außer finanziellen Belastungen keine Verbesserung der Verkehrssituation“. Außerdem erweise sich die Ökosteuer, die auch eine Erhöhung der Bahnstromkosten vorsehe, als „Nagel zum Sarg der Stadtbahnpläne“. Helmut von Scheidt, Vorsitzender der kommunalpolitischen FDP-Arbeitsgruppe, forderte den Stopp für die Stadtbahnplanung und statt dessen die Verbesserung des regionalen Busverkehrs.

Unbeirrt vom Kläffen der kleinen Partei standen die Stadtbahn-Signale jedoch weiterhin auf Grün, denn das Land signalisierte Zustimmung und Förderbereitschaft: Das auf 212,5 Millionen Mark veranschlagte Stadtbahn-Projekt mit dem Nutzen-Kosten-Index von nunmehr 1,27 könnte nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz mit bis zu 75 Prozent an Landeszuschuss rechnen. Hinzu kämen noch einmal fünf bis zehn Prozent Finanzausgleichsmittel.

Anfang Mai 2000 nahm die hessische Landesregierung die Stadtbahn Wiesbaden in den Katalog der Förderprojekte auf - der erste große Etappensieg. Die Grünen fühlten sich bestätigt, aber Teile der SPD und CDU bekamen allmählich kalte Füße: SPD-Fraktionschef Rolf Praml mäkelte an einer geplanten Ausfallbürgschaft der Stadt für die Planungskosten der Stadtbahn herum und verweigerte gar die Zustimmung zu deren Bewilligung, und der Landrat des Rheingau-Taunus-Kreises, Bernd Röttger (CDU) erklärte, eine Aufnahme der Stadtbahn in das Landesprogramm zur Gemeindeverkehrsfinanzierung bedeute noch nicht, dass auch Geld fließe. Bevor Kreis und Landeshauptstadt Millionen in die Planung investierten, müsse das Land definitiv sagen, welchen Zuschuss es gibt. Eine nicht unwesentliche Rolle im Entscheidungsprozess spiele auch die Haltung der FDP, so Röttger.

Mit diesen Aussagen war klar, dass die großen Parteien begannen, sich Hintertürchen für den Ausstieg aus dem Projekt zu bauen. Völlig zutreffend gab es dazu auch einen weitsichtigen Kommentar von Friedrich Roeingh im „Wiesbadener Kurier“ vom 13.5.2000: „Es ist kein Geheimnis, dass Praml - im Gegensatz zu vielen seiner Genossen - persönlich nicht vom Nutzen der Stadtbahn überzeugt ist. Er verfolgt aber offensichtlich auch wahltaktische Ziele: Praml will der kleinen FDP das erhebliche Protestpotenzial in der Bürgerschaft gegen die Rückkehr der ‚Elektrischen’ nicht überlassen. Dabei verkennt der Taktiker aber eine Gefahr: Wenn die große Stadtbahn-Koalition aus SPD, CDU und Grünen jetzt nicht zugreift und den Weg für das Planfeststellungsverfahren frei macht, wird die Stadtbahn im kommenden Kommunalwahlkampf zerrieben werden.“

Deutlich verschnupft über die Pro-Haltung des Landes Hessen unter Führung des Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) zeigte sich natürlich die FDP und ihr Landtagsabgeordneter Michael Denzin: Er wisse nicht, was den Ministerpräsidenten „geritten“ habe, und wenn dieser „sich raushängt, ist das sein Risiko“. Zuständig in dieser Frage sei der hessische Wirtschaftsminister Dieter Posch (FDP), und er gehe davon aus, dass Koch seine Zustimmung mit Posch nicht abgestimmt habe.

Für den Wiesbadener FDP-Kreisvorsitzenden Stefan Krakowka war die Stadtbahn „unzureichend und mit ideologischen Wunschvorstellungen durchgeplant“. Die FDP sei die einzige Alternative, um dieses „zerstörerische Projekt“ auf politischem Weg zu verhindern. Die FDP werde die Stadtbahn zum Wahlkampfthema machen und sich nach dem Urnengang auf keine Koalitionsvereinbarung einlassen, die nicht das Ende des „irrwitzigen“ Stadtbahnprojekts bedeute. Sein Parteikollege Wolfgang Schwarz sah schwarz und prophezeite eine „riesige Verschandelung durch den erhöhten Bahnkörper, Oberleitungen und die Beseitigung von Vorgärten und Bäumen“. Auch er wolle als Mitglied der „Anti-Stadtbahn-Partei“ die Kommunalwahl zur Abstimmung über die Stadtbahn machen. Schützenhilfe bekam die Partei - natürlich - wiederum von der Industrie- und Handelskammer Wiesbaden, die vor einer „Stadtbahn-Euphorie“ warnte und geklärt haben wollte, wie die „erheblichen Folgekosten" finanziert werden können.

Derlei Theaterdonner konnte die freie Fahrt der Stadtbahn-Planung noch nicht verzögern, denn plötzlich waren sich alle anderen Parteien wieder einig und wollten gemeinsam „in die Hände spucken“. Der Magistrat der Stadt Wiesbaden beschloss nun doch eine Ausfallbürgschaft in Höhe von bis zu vier Millionen Mark für Kosten, die der inzwischen gegründeten Stadtbahngesellschaft entstehen. Neuen Schub brachte im Juli 2000 auch die Nachricht, dass der erste Bauabschnitt der Stadtbahn von Bad Schwalbach zum Wiesbadener Hauptbahnhof nun „bedingt“ in das Bundesprogramm zur Förderung des OPNV für die Jahre 2000 bis 2004 aufgenommen worden war. Damit verlagere sich die Hauptlast der Finanzierung vom Land Hessen auf den Bund. „Nun sind die Stadtbahn-Planer am Zug“, kommentierte der hessische Wirtschaftsund Verkehrsminister Dieter Posch (FDP) die Aufnahme. „Es gilt nun nachzuweisen, dass das Vorhaben tatsächlich so nützlich ist, wie die Befürworter behauptet haben.“ Und da ist sie wieder - so eine typische Politiker-Aussage mit Hintertürchen ...


FERNGESTEUERTE KAFFEESATZLESEREI

Das Drama nahm seinen weiteren Verlauf und erfuhr im Vorfeld der Kommunalwahlen seine allmähliche Zuspitzung. Alle Beteiligten waren inzwischen auf der politischen Bühne erschienen - Lokal- und Landespolitiker, Wirtschaftsverbände und -vertreter, eine Bürgerinitiative (BUSB - „Busse statt Bahn“) und das mittels einer Leserbriefflut skandierende Fußvolk. Die politischen Stadtbahn-Schlagzeilen wurden zur Jahrestausendwende 2000/2001 von der FDP und ihrer ferngesteuerten Bürgerinitiative BUSB bestimmt, die „Argumentation“ gegen die Stadtbahn wurde allerdings nicht gehaltvoller, sondern nur schärfer und frecher („Eine Stadtbahn wäre ein Verbrechen an Wiesbaden“). Die Partei begann, das Zahlenwerk des Projekts zu manipulieren, aus den rund 200 Millionen abzüglich der Fördermittel von Land bzw. Bund wurde ein „unsinniges 500-Millionengrab“. Aus herbeikonstruierten Vermutungen wurde eine jährliche Kostenbelastung Wiesbadens von 12 Millionen Mark (statt nach seriösem Zahlenwerk 2,4 Mio.) angeprangert. Alle anderen Parteien zeigten Unverständnis über die FDP-Zahlen, der Fahrgastverband Pro Bahn & Bus warf der Partei Stimmungsmache mit Fehlinformationen zur Stadtbahn vor. Als „hochgradig unseriöse Kaffeesatzleserei“ bezeichneten die Grünen die FDP-Darstellungen, die darüber hinaus „in allen Punkten falsch“ seien. Noch laufe der lange Verhandlungsprozess mit verschiedenen Finanzierungsmodellen, an dessen Ende der Finanzierungsvertrag stehe, und nur der sei entscheidend. „Eine Zahl, und die auch noch falsch, aus einem Arbeitsgespräch herauszugreifen, zeigt, wie dünn die FDP-Argumentation gegen das Projekt ist.“ Auch der CDU-Landrat bedauerte, dass sich die FDP aus internen Arbeitspapieren bediene und sie in der Öffentlichkeit auch noch falsch darstelle.

Neue FDP-Querschläge kamen von der Industrie- und Handelskammer, sie präsentierte eine „BusBahn“-Studie von Daimler-Chrysler und bot Dieter Herrmann vom Autohaus „Taunus Auto“ die Plattform für einen Vortrag zum Thema „Alternativen zur Stadtbahn“. Die elektronisch geführte „BusBahn“ koste nur ein Drittel der Stadtbahn und sei flexibler. Die CDU ließ sich von diesem neuerlichen IHK-Vorstoß kirre machen und wollte den Vorschlag „im Detail prüfen“. Wieder wurde der falsche Vorwurf laut, die Stadt Wiesbaden habe keine Alternativen für die schienengebundene Stadtbahn erwogen und diskutiert. Dabei stand die Untauglichkeit von Spurbussystemen für diese Region schon seit 1995 fest: Die Stadt prüfte damals drei Alternativen für ein öffentliches Verkehrsnetz in Wiesbaden und dem Umland, weder eine Erweiterung des herkömmlichen Bussystems noch ein Bus-Bahn-Zwitter konnten unter dem Strich die Vorteile und Effekte einer Stadtbahn übertreffen. So lehnte selbst der kürzlich verstorbene Chef der Wiesbadener Stadtwerke, Gerd Heunemann, die „BusBahn“ als „nicht diskussionswürdig“ ab. „Entweder man baut eine Schienenbahn oder man bleibt gleich beim bewährten Bussystem“, es sei unsinnig, viele Millionen für ein Sparbussystem auszugeben, das nicht mehr leisten könne als die üblichen Gelenkbusse, schimpfte auch SPD-Fraktionschef Rolf Praml und baute sich zugleich kein Hintertürchen, sondern gleich ein riesiges Hintertor für einen eventuellen SPD-Stadtbahn-Ausstieg nach der Kommunalwahl: „Wenn die Voraussetzungen bei Förderung und Stadtverträglichkeit stimmen und unter den Bürgern breiter Konsens herzustellen ist, wird die Stadtbahn gebaut, sonst nicht.“

Etwas konstruktiver dachte zu diesem Zeitpunkt die gegenüberliegende rheinland-pfälzische Landeshauptstadt Mainz, die mit ihrem Durchgangs-Hauptbahnhof und dem Straßenbahn-Netz traditionell enger mit dem Schienenverkehr verwoben ist als das gleisarme Wiesbaden. Dort wuchs die Bereitschaft, sich am Wiesbadener Stadtbahnprojekt zu beteiligen. Nachdem die Mainzer CDU-Fraktion ihre anfangs ablehnende Haltung zur Stadtbahn revidiert hatte, stellte Verkehrsdezernent Hans-Jörg von Berlepsch (Grüne) erste Uberlegungen für den zweiten Bauabschnitt der Stadtbahn und die Anbindung nach Wiesbaden an. Laut Berlepsch habe die Stadtbahn in Mainz nur Sinn, wenn sie neben dem Hauptbahnhof auch die Universität und den geplanten ZDF-Medienpark ansteuere. Zudem solle sie bis nach Alzey fahren und so die Region anbinden. Tatsächlich platzt diese Rheinhessen-Strecke schon jetzt aus allen Nähten und verlangt dringend nach einem innovativeren und ausbaufreudigeren Betreiber als die jetzige DB. Doch mit dem Wiesbadener Stadtbahn-Aus sind auch die Mainzer wieder auf Distanz gegangen, selbst das Potenzial ihrer Straßenbahn wird nur halbherzig genutzt.


NULL PROZENT FÜR DIE STADTBAHN

Kommunalwahl in Wiesbaden! Der 18. März 2001 ließ bereits im Vorfeld den „Wiesbadener Kurier“ die Bürger zwei Mal zu wichtigen Themen befragen, so auch zum Bau der Stadtbahn: Im Dezember 2000 fanden dies 9 % „sehr wichtig“, 22 % „wichtig“ und 62 % „nicht so wichtig“. Im Februar 2001 lagen diese Werte jeweils bei 11 %, 26 % sowie 58 %. Die Wahlkampfzeitungen der Parteien verstopften die Briefkästen und besonders interessant war, dass die Stadtbahn in der SPD-Zeitung 1,5 Prozent der Gesamt-Seitenfläche in Anspruch nahm - immerhin pro! In der kleinen Reklameschrift der Klarenthaler SPD hieß es allerdings: „SPD-Klarenthal immer noch dagegen, Investitions- und Folgekosten unbezahlbar“. In der CDU-Wahlkampfzeitung kam die Stadtbahn ganz überraschend überhaupt nicht vor, statt dessen wurde auf 16 % der Gesamt-Seitenfläche für Umgehungsstraßen plädiert und eine Karikatur gegen die Ökosteuer abgedruckt.

Während die CDU bereits vor der Wahl öffentlich eine Koalition mit der FDP angestrebt und damit ein Machtspiel wegen der Stadtbahnfrage provoziert hatte, warb die grüne Verkehrsdezernentin offensiv mit einer aufwändig gestalteten Stadtbahn-Broschüre, die in einer Auflage von 180.000 Exemplaren an Haushalte in Wiesbaden und dem Rheingau-Taunus-Kreis verteilt wurde. Hier wurde nicht nur der erste Bauabschnitt erläutert und beworben, sondern ebenso der längerfristige Ausbau mit drei weiteren Linien und rund 50 Kilometer Gesamtlänge. Diese Broschüre war zwei Parteien ein Dorn im Auge – CDU-Oberbürgermeister Hildebrand Diehl warnte vor der Schrift, weil das Heftchen Anlass zur Wahlanfechtung liefern könnte, die FDP kündigte lautstark an, sie werde „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ versuchen, vor dem Verwaltungsgericht eine einstweilige Verfügung gegen die Stadtbahn-Broschüre zu erwirken. Sie stelle einen „administrativen Eingriff in die Chancengleichheit“ dar, kurz vor der Kommunalwahl werde mit städtischen Geldern ein Wahlkampfthema „ganz neu beleuchtet“. Die Straßen- und Spurbus-Partei forderte gar den Rücktritt der Verkehrsdezernentin Christiane Hinninger. Diese gänzlich illiberalen Versuche, Information und Meinung zu verbieten, schlugen natürlich fehl, denn Herausgeber der Broschüre war offiziell die „Stadtbahn Wiesbaden GmbH“; die Grünen sowie sonst übliche Politiker-Grußworte kommen darin überhaupt nicht vor, somit war der „Tatbestand“ der Parteienwerbung nicht erfüllt. Ein geschickter Zug der einzig wirklichen Stadtbahn-Partei - und so war auch ganz oben auf der Titelseite der Broschüre der Satz „Ein geschickter Zug“ zu lesen. Gemeint war natürlich das System der Stadtbahn ...

Keinen peinlichen Fauxpas, sondern wiederum eine dreiste Lüge und Täuschung der Bürger leistete sich die FDP mit einer Plakataktion an Bushaltestellen im Einzugsgebiet der späteren Stadtbahn. Mit der Schlagzeile „Diese Haltestelle fällt weg!“ versuchte sie, mit nicht genehmigter Plakat-Anbringung zusätzliche Stimmung gegen die Stadtbahn zu machen. Die Stadtwerke waren erbost und ließen die Plakate nicht nur wegen der fehlenden Aushangs-Genehmigung entfernen, sondern auch, weil die inhaltlichen Aussagen falsch waren: Zum einen würde keine einzige Haltestelle wegfallen, weil weiterhin Zubringerbusse zur Stadtbahn an ihnen halten würden, zum anderen fiele keine Haltestelle weg, auch wenn sie wegen baulicher Maßnahmen eventuell um zwanzig oder fünfzig Meter verschoben werden müsse. Stefan Krakowka, „Spitzenkandidat“ der FDP, gab dann auch ein wenig zerknirscht zu, wohl „etwas überlesen zu haben“, die Haltestellen würden wohl tatsächlich nicht wegfallen. Der Schaden indes war geblieben, die in der Stadtbahnfrage sensibilisierten Bürger wurden weiter verängstigt statt aufgeklärt - dem so genannten „Liberalismus“ wurde ein Bärendienst erwiesen ...

Montag, 19. März 2001 - die Kommunalwahl war gelaufen. Der „Wiesbadener Kurier“ erschien mit der Schlagzeile „Machtwechsel in Wiesbaden“. Das Ergebnis bestätigte zumindest bei denjenigen, die um die Zukunft der Stadtbahn fürchteten, die schlimmsten Erwartungen: Die SPD sank von 36,4 % auf 34,7 %, die CDU stieg von 34,2 % auf 36,5 %, die Grünen sanken von 13,5 % auf 10,3 % und die FDP - sie stieg von 4,3 % auf 11,9 %! In Wiesbaden konnte man gegen die Schiene haushoch Wahlen gewinnen! Immerhin noch mit 4,8 % (vorher noch skandalösere 9,9 %) schnitten die „Republikaner“ ab - auch sie waren natürlich einhellig und energisch gegen die Stadtbahn, denn wo der Herrgott ein großes Mundwerk geschaffen hatte, blieb für den Denkapparat natürlich keine Materie mehr übrig.


UMKIPPEN BIS ZUR BEERDIGUNG

Das Kalkül der FDP, ein von den beiden großen Parteien nicht hundertprozentig vertretenes Stadtthema zu besetzen, war in Wahlprozenten fast dreihundertprozentig aufgegangen, die Partei konnte sich als Wahlgewinner feiern lassen. Viele Wähler waren auf die populistische Masche der Angst- und Panikmache hereingefallen oder fühlten sich in ihrer offenen oder latent vorhandenen Stadtbahn-Ablehnung bei dieser Partei auf der sicheren Seite. Keine andere Partei konnte aus ihrer mehr oder weniger überzeugten Pro-Stadtbahn-Haltung politisches Kapital schlagen, das CDU-Plus von 2,3 % war viel eher dem Partei-Ruf nach mehr Sicherheit, weniger Graffiti und neuen Umgehungsstraßen zuzuschreiben. Jetzt lauteten die Zukunftsfragen zur Stadtbahn. 'Welche neuen Mehrheiten gibt es?', 'Wer koaliert mit wem?' und 'Wer kippt um?'.

Die CDU im Rheingau-Taunus-Kreis beharrte auf der Stadtbahn und warnte davor, „dass eine Entwicklungschance für die ganze Region verspielt wird“. Doch die Wiesbadener CDU ließ sich vom „Wahlgewinner“ unter Druck setzen, denn die harten Koalitionsverhandlungen, die die FDP wegen der „Stadtbahn-Beerdigung“ ankündigte, fanden tatsächlich kompromisslos statt: Die FDP blieb bei ihrer Forderung, dass die CDU sich von den Stadtbahn-Plänen verabschieden muss, will sie mit den „Liberalen“ eine „bürgerliche Mehrheit“ bilden. Diese Mehrheit aber war denkbar knapp - sie brachte es nur auf 40 von 81 Sitzen. Die beiden Parteien erhoben jedoch auch ohne den zur absoluten Mehrheit fehlenden 41. Sitz in der Stadtverordnetenversammlung den Anspruch, die Richtlinien der Politik in den kommenden fünf Jahren zu bestimmen, weil der rot-grüne Block nur 37 Sitze besitze: Wesentlicher Punkt für eine Einigung war das Aus für die Stadtbahn, für die alle weiteren Planungsschritte gestoppt werden sollten.

„Parlament schickt Stadtbahn aufs Abstellgleis“ titelte am 21. Juni 2001 der „Wiesbadener Kurier“ und schrieb: „CDU und FDP brachten am späten Dienstagabend im Stadtparlament wie erwartet einen Antrag durch, wonach die Planungen für die Strecke Bad Schwalbach - Wiesbaden beendet werden. Ferner soll geprüft werden, ob Alternativen wie Busbahn oder verbessertes Bussystem realisiert werden können. Die verbleibenden Planungsmittel sollen verwendet werden, um eine Schienenverbindung zwischen Wiesbaden Hauptbahnhof und Mainz Hauptbahnhof `konkret zu untersuchen'. SPD und Grüne beteiligten sich nicht an der Abstimmung, die meisten ihrer Stadtverordneten verließen demonstrativ den Saal, nachdem Stadtverordnetenvorsteherin Angelika Thiels es abgelehnt hatte, zwei Anträge der beiden Parteien zu behandeln, mit denen der Stadtbahn-Stopp verhindert werden sollte.“ Ein letztes schmutziges Polit-Detail am Rande war die Tatsache, dass die „Republikaner“ beim Stadtbahn-Stopp von CDU und FDP mitvotierten.


DIE ÜBERSCHÄTZTEN BÜRGER

Die Grünen sowie Teile von SPD und CDU, die nach wie vor die Stadtbahn befürworteten und doch noch aufs Gleis setzen wollten, sahen ihre vorerst letzte Chance in einem Bürgerentscheid - ein politisches Element, für das bereits kurz nach der Kommunalwahl auch der Wiesbadener Ex-Kämmerer Dietrich Oedekoven (SPD) plädiert hatte. Nun sollten also die Bürger entscheiden - doch woher nahmen die Stadtbahn-Befürworter den Optimismus, dass sich die Einwohner Wiesbadens tatsächlich für die Stadtbahn entscheiden? Viel realistischer war in diesem Stadium, dass auch die Mehrheit der Bürger dagegen votieren würde - das endgültige und auch durch den „Souverän“ sanktionierte Aus für die Stadtbahn! Am 29. Mai 2001 gründete sich die Initiative „Stadtbahn: ja“, die neben den Grünen vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad Club (ADFC), vom Verkehrsclub Deutschland (VCD) und von Pro Bahn & Bus getragen wird.

Vor dem Bürgerentscheid steht das Bürgerbegehren, d. h. im Falle Wiesbadens mussten mindestens zehn Prozent der gemeldeten Einwohner für einen Bürgerentscheid stimmen. Um das Verfahren in Gang zu bringen, waren in Wiesbaden knapp 20.000 Unterschriften nötig. Beim anschließenden Urnengang, dem eigentlichen Bürgerentscheid, hätte sich dann eine Mehrheit für die Stadtbahn aussprechen müssen, wobei diese Mehrheit aber mindestens 25 Prozent aller Wahlberechtigten hätte ausmachen müssen - die Stadtbahn hätte also mindestens 50.000 Ja-Stimmen benötigt. Mitten in der durch die Urlaubszeit bedingten relativ leeren Landeshauptstadt sammelten die Stadtbahnfreunde mit hohem Zeit- und Kräfteeinsatz bis zum 31. Juli 2001 14.200 Unterschriften für einen Bürgerentscheid - genau 5546 zu wenig. Das Bürgerbegehren war gescheitert, ein Bürgerentscheid somit nicht möglich - die Stadtoberen machen sich nicht einmal die Mühe, die gesammelten Unterschriften auch zu zählen und auf ihre Richtigkeit zu überprüfen: Die städtischen Mitarbeiter hätten auch ohne eine solche „rechtlich irrelevante und daher überflüssige Arbeit“ ausreichend zu tun, so der Stadtrat Dieter Schlempp (CDU). Eine Partei freilich interessierte sich noch für diese Unterschriften für den Bürgerentscheid - sie bezweifelte nicht nur die gesammelte Zahl, sondern sogar ihre Echtheit. Die Partei tritt verbal stets für Bürgerrechte ein, trägt die Demokratie in der Mitte ihres Namens und heißt: F.D.P.

Das war der Wiesbadener Stadtbahn-Blues. Was wir aus diesem endlosen Klagelied lernen? Die Wiesbadener sind (noch?) nicht reif für eine Stadtbahn und haben sie demnach zurzeit auch nicht verdient. Kommt sie dann eines Tages (hoffentlich) doch noch, haben die Bürger und ihre Volksvertreter vor allem eines: mehr Glück als Verstand.


UND DACKEL SIND DOCH KLÜGER

Einer der wenigen mit weitsichtigem Verstand ist offensichtlich Lumpi, ausgerechnet der Dackel des FDP-Stadtrats und Stadtbahn-Boykotteurs Wolfgang Schwarz (71). In der Wiesbadener FDP-Geschäftsstelle, wohin er den rückständigen Politiker begleiten durfte, hatte das kluge Tier das FDP-Papier gegen die Stadtbahn zerfetzt und zerfleddert, in klitzekleine, unleserliche Schnipsel. Der weise Teckel ein Stadtbahnverfechter? Oder gar ein Grüner? Dem entsetzten FDP-Senior entfuhr ein „Bist du denn wahnsinnig!?“ Schade, dass Lumpi jetzt nicht sprechen konnte, denn für einen kurzen Moment sah man seinen Dackelaugen an, dass er just die selbe Frage an sein Herrchen stellen wollte.



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